Text von Karl Iten, 1979
Ruggero Leoncavallo in Garten der Villa Myriam
Ein verlorenes Paradies
Die Wellen der Erregung über die Zerstörung der Villa Leoncavallo in Brissago sind verebbt. Heute steht an der Stelle des zauberhaften Hauses und des reizvollen, leicht verwilderten Parkes ein phantasieloser modernistischer Zweckbau der übelsten Sorte, der einem das Fehlen seines Vorgängers nur umso deutlicher spürbar macht. Das Zierliche und verspielte ist einem abstossenden Wohnbunker gewichen, neben dem wie ein Hohn die Figur des "Roland von Berlin", dem einzigen Überbleibsel der alten Herrlichkeit, steht, die freilich wie eine Faust aufs Auge passt. Ein weiterer wesentlicher Schritt zur Zerstörung von Brissago ist damit glanzvoll zum Abschluss gebracht worden.
Die "legale" Zerstörung eines bedeutenden Kulturdenkmals
Anfang März 1978 war in der "Südschweiz" eine kleine, unscheinbare Notiz erschienen, woraus zu entnehmen war, der Gemeinderat von Brissago habe dem Abbruchgesuch für die Villa Leoncavallo zugestimmt. Am Montag der Karwoche 1978 besuchten wir ein letztes Mal das dem Untergang geweihte Haus, das von der Strasse aus noch einigermassen intakt erschien. Es war um Mittagszeit. Unter der Vorbau des Treppenaufganges sassen ein paar Arbeiter, kochten etwas und assen. Im Garten aufgeschichtete Eisengeländer zeugten bereits von der Zerstörung dieses Hauses, die im vollem Gange war. Die vage Hoffnung, das immer noch eine Art Wunder die Villa vielleicht retten könnte, fiel jedoch völlig in sich zusammen, als wir das äusserlich noch kaum zerstörte Haus betraten.
Ruggero Leoncavallo
Ruggero Leoncavallo
Vor Jahren hatten wir das Glück gehabt; die Villa Leoncavallo von innen besichtigen zu dürfen: Das Musikzimmer des Meister mit der Galerie, auf der einst sein Flügel stand; das prunkvolle Schlafgemach mit dem blau-goldenen Sternenhimmel; die Wandgemälde mit den Szenen aus seinen Opern, die die Eingangsräume schmückten. Der Park war wundervoll und verwildert. Im geheimnisvollen grüne Dickicht stand düster der "Roland von Berlin", ein Geschenk des letzten deutschen Kaisers an Leoncavallo, nachdem dieser die Auftragsoper mit dem gleichen Namen vollendet hatte. Die Ritterfigur in diesem südländischen Garten mit seinen Palmen war ein recht phantastischer Anblick. Hinter dem Haus aber stand die reizvolle Jugendstil-Figur der Zazà, eine Zementgussplastik, die mit beiden Händen ihr plissiertes Gewand seitwärts ausbreitete. Sie trug ein zierliches Hütchen, der Mund war leicht geöffnet und sie lächelte. Von ihr soll hier die Rede sein, denn sie wurde unter recht abenteuerlichen Umständen von der Zerstörung gerettet.
Es war bereits völlig ausgehöhlt. Man hatte die Fussböden der Zimmer den Wänden entlang durchgesägt, so dass sie in die unteren Räume gestürzt waren. Mauerstücke, zersplittere Balken, Schutt und Staub türmten sich in einem wüsten Durcheinander in den Räumen, wo Leoncavallo ("gloria del teatro lirico italiano") einst gelebt hatte. Im Stiegenhaus waren die Treppengeländer entfernet, abtransportiert. Die Treppenstufen ragten frei aus der Wand heraus und führten wie um einen kleinen Innenhof in die oberen Stockwerke. Es war ein merkwürdiges, unsicheres Gefühl, hinaufzusteigen ohne die sichere Abschränkung des Eisengitters. Der phantastische, unwirkliche, fast schwebende Zustand wurde noch verstärkt, wenn man hinaufsah: Oben an der Decke der Stiegenhauses befand sich noch immer eine illusionistische Malerei. In einem umgrenzenden Stuckrahmen hatte Leoncavallo einen zauberhaften Himmel mit duftigen Wölklein malen lassen, der dem Raum eine Spur von Grossartigkeit und Weite gab. Unser Gefühl der Unsicherheit in diesem verfremdeten Treppenhaus verstärkte sich so, dass wir wieder hinunter gehen mussten. Ein gemeineres Vorgehen der Verantwortlichen hätte man sich kaum denken können. Was man von aussen sah, war nur mehr eine leere Hülle. Mit der planmässigen Zerstörung im Innern war schon vor Tagen begonnen worden. Das einzige, was noch von der einstigen Pracht kündete war der Prachtvolle Fliesboden bei Eingang mit dem arabisch inspirierten Muster in blau, rosa, weiss und dunklem violettbraun.
Ruggero Leoncavallo nella sua villa di Brissago
Leoncavallo in seiner Villa in Brissago
Die alte Frage taucht auf; ob einer, der ein Kunstwerk besitzt, auch das Recht damit erworben hat, dieses zu zerstören, wenn es ihm gefällt. Mit welcher Überheblichkeit wurde hier ein für Brissago bedeutendes Denkmal beschlossen ein paar Leute aus Brissago, in einer Art von Notwehr wenigstens die Zazà vor der endgültigen Untergang zu retten. Der damalige Gemeindepräsident Cesare Conti Rossini wurde verständigt, denn die Fragmente der Figur in Sicherheit gebracht. Es bereitete etliche Mühe, die weggeschlagenen Teile, die Hände, Arme und Gewandstücke in den Steintrümmern zu finden. Aber die Suche hat sich gelohnt.
Die "illegale" Rettung eines unbedeutenden Kunstwerk.
Plötzlich entdeckten wir am Rande der Trümmerfeldes, umgestürzt, zur Hälfte im Schutte vergraben, die Zementguss-Statue der Zazà, die wir einst im Garten bewundert hatten. Ihre Arme und Hände waren abgeschlagen, Ihr Kleid schwer beschädigt. Singend und immer noch lächelnd lag sie in Ihrem Kleid Fin-de-siècle umgestürzt und zerbrochen zwischen Mauertrümmern und geknickten Zweigen der ebenfalls zutode getroffenen, geschändeten Sträucher des einstmals so prächtigen Gartens. Betroffen standen wir vor diesem Anblick, der uns im Innersten anrührte. Die Statue, obwohl brutal zerstört, war praktisch der einzige, winzige Teil, der die Zerstörung wenigstens als Fragment überdauert hatte. Hinten aber stand drohend der Bagger, bereit, alles einzuebnen...
Zazà nel giardino di Villa Leoncavallo
Zazà in Garten der Villa Leoncavallo
Die Retter der Zazà beschlossen, die Figur der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Statue wurde liebevoll restauriert, wieder zusammengesetzt, fehlende Teile ergänzt. Heute steht sie vor dem Ristorante "Favorita" in Piodina, hoch über den Lago Maggiore. Und damit könnte eigentlich nicht nur sie, sondern jedermann zufrieden sein. Die (damals) fünfundsiebzigjährige Dame musste zwar ihren Platz im verwilderten Leoncavallo-Park wegen eines Unfalles aufgeben, dafür aber steht sie nun als einzige und letztes Zeugnis einer grossen Zeit in Brissago an einer traumhaft schönen Stelle hoch über dem See und könnte dort ihren geruhsamen und wohlverdienten Lebensabend verbringen.
Ein merkwürdiges Nachspiel
Nun ist ja diese Zazà beileibe kein bedeutendes Kunstwerk, aber sie strahlt einen eigenartigen Reiz aus, der die Zeit in der sie entstand, wenigstens spurenweise in unsere Gegenwart hinüber gerettet hat. Wann hört jemand auf, Besitzer eines Gegenstandes zu sein? Spätestens wohl dann, wenn er freiwillig darauf verzichtet und ihn der Kehrichtabfuhr übergibt. Bei einem Kunstwerk sicher dann, wenn er es mutwillig zerstört. Den ein Kunstwerk ist nur ein rein materieller Besitz, mit dem man machen will was man kann. Was ist legal, was illegal? Ist die totale Zerstörung der Villa Leoncavallo legal? Ist die Rettung der Zazà illegal? Im einen äusserst sich nichts anderes als ein bedenkliches Profitdenken. Im anderen vielleicht doch so etwas wie die Liebe zu diesem Land und zu seinen Kulturschätzen, und die echte Sorge darum, wie dieses Dorf einst aussehen wird, wenn man den Entwicklungen einfach ihren Lauf lässt.
Die Geschichte ist sicher noch nicht zu Ende. Jetzt, nachdem über den Hausabbruch etwas Gras gewachsen ist, möchte sich Frau Forster ihr lädiertes Image etwas aufpolieren, indem sie die Umgebung des neuen bunkerhaften Gebäudes mit ein paar, grosszügigerweise geretteten Relikten aus der Umgebung Leoncavallos nostalgisch dekoriert! Welch himmelschreiender Unsinn, und welche Überheblichkeit! Man hat der guten Dame offeriert, sie könne "Ihre" Zazà in Piodina abholen, wenn sie sie wolle, aber nur im gleichen Zustand, wie sie hinauftransportiert worden ist. Ob sie es wohl tun wird?